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Die Haymarket Riot in Chicago

Aktualisiert: vor 7 Tagen

Der Ursprung des 1. Mai als Tag der Arbeit


Am 1. Mai 1886 demonstrieren 80.000 Arbeiter auf der Michigan Avenue in Chicago für die Begrenzung der Arbeitszeit auf einen Achtstundentag. Drei Tage später explodiert auf einer Kundgebung am Haymarket eine Bombe. Haben Anarchisten oder bezahlte Agenten des Kapitals die Tat begangen? Um diese Frage geht es in meinem neuen Krimi "Mit Müh und Not".


Das erste Kapitel, das es hier als Leseprobe gibt, schildert den Ablauf des Ereignisses, das als sogenannte Haymarket Riot bzw. Haymarket Affair oder auch Haymarket Massaker in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingegangen ist. Im Anschluss an die Leseprobe findet ihr dann weitere Ausführungen zur Haymarket Riot in Chicago und was dieses Ereignis mit dem 1. Mai als Feiertag zu tun hat.


Haymarket Riot
Eine zeitgenössische Darstellung der Haymarket Riot in Chicago, die allerdings nicht akkurat ist, da hier Ereignisse zeitgleich dargestellt werden, die in Wirklichkeit nacheinander erfolgten. Wie die Haymarket Riot genau abgelaufen ist, könnt ihr nachfolgend lesen.

4. Mai 1886

Ein leichter Nieselregen setzte ein. Andreas Brenner stand in der ersten Reihe vor dem als Bühne genutzten Pferdewagen und knöpfte sich die Jacke zu. Hinter sich hörte er Gemurmel und gelegentliche Zwischenrufe aus der Menge, die in der dunklen Straße versammelt war, um die führenden Anarchisten Chicagos reden zu hören.

Andreas arbeitete seit anderthalb Jahren als Schriftsetzer bei der auf Deutsch erscheinenden Arbeiter-Zeitung. Deren Chefredakteur August Spies hielt heute Abend die erste Rede. Am Vortag waren streikende Arbeiter der McCormick-Landmaschinenfabrik von der Polizei angegriffen worden, nachdem sie Streikbrecher attackiert hatten. Davon sprach August Spies. Er hatte mit ansehen müssen, wie zwei Arbeiter im Kugelhagel starben und unzählige verletzt wurden. Die bürgerlichen Zeitungen berichteten heute, er hätte die Arbeiter aufgewiegelt. Doch in seiner Rede verteidigte er sich: Er habe sich bei den ebenfalls streikenden Arbeitern auf den nahe gelegenen Holzumschlagplätzen aufgehalten und sei ihnen nur zu den Tumulten vor dem Fabriktor gefolgt.

Andreas dachte an gestern: Er war in der Setzerei, als Spies am späten Nachmittag sehr aufgebracht mit den englischen und deutschen Texten für ein zweisprachiges Flugblatt hereinkam. Darin schilderte er die Geschehnisse bei McCormick und rief zum Widerstand auf. Die Schlagzeilen lauteten »Workingmen, to Arms!« und »Arbeiter, zu den Waffen!«. Ein Kollege von Andreas fügte beim Setzen noch in fetten Buchstaben die Worte »Revenge« und »Rache« hinzu.


Die heutige Kundgebung fand statt, um gegen das Vorgehen der Polizei zu protestieren. Spies erinnerte seine Zuhörer an eine Reihe von Vorfällen in den letzten Monaten und Jahren, bei denen die Polizei streikende Arbeiter getötet hatte. »Warum ermordeten die Bluthunde der Ausbeuter eure Brüder?«, rief er den Arbeitern zu. »Weil sie den Mut hatten, mit dem Los unzufrieden zu sein, das die Ausbeuter ihnen beschieden hatten. Sie forderten Brot und man antwortete ihnen mit Blei.« Spies sah kurz in die Runde und fuhr fort: »Viele Jahre habt ihr die Demütigungen ohne Widerspruch hingenommen, habt euch vom frühen Morgen bis zum späten Abend geschunden, habt Entbehrungen jeder Art ertragen, um die Kassen der Herren zu füllen. Und jetzt, wo ihr vor sie hintretet und sie bittet, eure Bürde etwas zu erleichtern, da hetzen sie zum Dank ihre Bluthunde auf euch, um euch mit Bleikugeln von der Unzufriedenheit zu kurieren. Arbeiter, ihr seid am Scheideweg angelangt! Wofür entscheidet ihr euch? Für Sklaverei und Hunger oder für Freiheit und Brot?«

Aus der Menge kamen Rufe: »Freiheit! Brot!«

Als Nächster sprach Albert Parsons, der Herausgeber der Wochenzeitung The Alarm und der bekannteste englischsprachige Redner der anarchistischen Internationalen Arbeiter-Assoziation, die alle nur die Internationale nannten. Im Sommer kamen jeden Sonntag Tausende Arbeiter zum Lake Front Park am Ufer des Michigansees, um ihn reden zu hören.

Auch an diesem Abend riss Parsons das Publikum mit. Er prangerte insbesondere das Verhalten der Staatsmacht an: »Statt das Volk, also euch, die Arbeiter, zu schützen, verstehen es Polizei und Nationalgarde als ihre Aufgabe, die Macht des Kapitals zu erhalten.« Seine Stimme wurde lauter. »Freiwillig werden euch die Blutsauger nichts geben, keinen Achtstundentag, keinen fairen Lohn, keine Mitbestimmung. Aber der Tag naht, an dem die Arbeiter in der ganzen Welt die Fesseln der Lohnsklaverei abschütteln und die Ausbeuterklasse vernichten werden!«


Andreas bewunderte Spies und Parsons. Seit Monaten hatten sie die Arbeiter dazu aufgerufen, sich zu bewaffnen, damit sie sich gegen die brutalen Übergriffe der Polizei schützen konnten. Die beiden waren jedoch gemäßigt im Vergleich zu dem in New York lebenden Johann Most, der ganz offen zum gewaltsamen Umsturz aufrief. Most hatte auch in Chicago eine ganze Reihe von Anhängern. Darunter war der Vorarbeiter in der Setzerei der Arbeiter-Zeitung, Adolph Fischer. Kein Tag verging, an dem Fischer nicht genau wie Most von der »Propaganda der Tat« und der befreienden Kraft des Dynamits schwärmte.


Spies wurde das oft zu viel, und auch heute Morgen hatte er wieder heftig mit Fischer gestritten. Der hatte diese Kundgebung organisiert und den Text für das Ankündigungsflugblatt mit dem Satz »Arbeiter, bewaffnet euch und erscheint massenhaft« abgeschlossen. Spies jedoch wollte nur dann als Redner auftreten, wenn Fischer den Satz entfernte. Er fürchtete, dass durch einen Aufruf zur Bewaffnung viele Arbeiter abgeschreckt würden. Fischer hielt dagegen, dass Spies am Vortag nach den Vorfällen bei McCormick in seinem Flugblatt selbst den Satz »Arbeiter, zu den Waffen!« verwendet habe. Spies erwiderte, das wäre eher generell gemeint gewesen. So ging es hin und her.


Fischer willigte schließlich kopfschüttelnd ein, der Text wurde geändert und das Flugblatt neu gedruckt, aber einige Exemplare der alten Fassung waren wohl doch verteilt worden, denn Andreas hatte eines von ihnen in der Hand eines Kundgebungsteilnehmers gesehen. Wenn Spies das erfuhr, würde er sicher sehr ungehalten werden. Schon heute Abend nach seiner Ankunft auf dem Haymarket war er wütend geworden: Außer ihm war kein anderer Redner da und er musste sich selbst um weitere Sprecher kümmern. »Ich verstehe das nicht«, hatte Spies zu Andreas gesagt. »Was hat sich Fischer dabei gedacht, keine englischen Redner einzuladen? Der will Revolution machen, ist aber nicht mal in der Lage, eine Kundgebung auf die Beine zu stellen.«


Andreas mochte den trotz aller revolutionären Leidenschaft eher besonnen vorgehenden Spies. Für ihn war der Zeitpunkt für eine Revolution noch nicht gekommen, vor allem weil die Arbeiter nicht ausreichend organisiert waren. Eine Niederschlagung wie bei der Pariser Kommune vor fünfzehn Jahren musste unbedingt vermieden werden, hatte er neulich erst während einer Arbeitspause erklärt und betont, den Gewerkschaften käme eine besondere Rolle zu. Fischer dagegen nannte den Kampf um Reformen wie den Achtstundentag »nutzlose Spielerei«.

In Gedanken mit den Streitereien zwischen Spies und Fischer beschäftigt, hatte Andreas der Rede von Albert Parsons nur mit halbem Ohr zugehört. Der hatte gerade zu Ende gesprochen, begleitet von heftigem Applaus und zustimmenden Rufen. Parsons, der mit seiner Frau Lucy und seinen zwei kleinen Kindern gekommen war, stieg vom Wagen und gab bekannt, dass er wegen des stärker werdenden Regens mit seiner Familie in die nahe gelegene Arbeiterkneipe Zepf’s gehen würde.

Die meisten Teilnehmer hatten sich angesichts des Wetters schon auf den Heimweg gemacht, der letzte Redner fand daher nur noch ein paar Hundert hartgesottene Zuhörer: Samuel Fielden stieg auf die provisorische Bühne und sein langer Bart wehte im Wind. Der nordenglische Dialekt des kräftigen Fuhrmanns war unverkennbar, als auch er mit donnernder Stimme die Staatsgewalt verurteilte, die nur den Interessen des Kapitals diente. »Verliert sie nicht aus den Augen!«, rief er der Menge zu. »Haltet sie auf! Tötet sie! Tut alles, was in eurer Macht steht, um sie zu stoppen!« Die Männer, die jetzt noch hier ausharrten, waren kampfbereit. Nicht wenige von ihnen waren Mitglieder im verbotenen Lehr und Wehr Verein, der einige Hundert Arbeiter militärisch ausbildete. Auch Adolph Fischer trug stolz eine Gürtelschnalle mit der Aufschrift »L.&W. V«. Andreas hatte Sophie versprochen, um zehn zu Hause zu sein. Sie hatte ihn gebeten, nicht zu dieser Kundgebung zu gehen, nach dem, was gestern bei McCormick geschehen war. Andreas aber wollte gegenüber seinen Kollegen von der Arbeiter-Zeitung nicht als Feigling dastehen. August Spies hatte ihm gerade freundlich zugenickt und auch Adolph Fischer war eben noch hier gewesen, allerdings hatte Andreas ihn in der Dunkelheit aus den Augen verloren.


»Uns wurde der Krieg erklärt«, rief Fielden. Seine kräftige Stimme hallte trotz des Windes von den Fassaden der unbeleuchteten Fabrik- und Geschäftsgebäude auf beiden Straßenseiten wider. »Und ich fordere euch auf: Nutzt, was ihr könnt, um dem Angriff des Feindes zu widerstehen!« Der Redner hielt inne und schien über die Menge hinweg etwas zu beobachten. Jemand rief: »Da kommen die Bluthunde!«


Ungefähr zweihundert Polizisten marschierten im Eiltempo, in voller Straßenbreite und in mehreren Reihen hintereinander auf die Kundgebung zu. Viele der Uniformierten hatten Schlagstöcke in der Hand, manche sogar Revolver. Die Menge wich zurück.



Als die Polizisten den Wagen mit dem Redner beinahe erreicht hatten, befahl ihnen ein Hauptmann anzuhalten. Andreas sah neben dem Hauptmann den berüchtigten Chefinspektor John Bonfield stehen. Bonfield war in Chicago für sein brutales Vorgehen gegen Demonstranten bekannt. Er hatte auch die gewaltsame Niederschlagung der Proteste am Vorabend bei McCormick angeführt. Bonfield nickte dem Hauptmann zu. Der verkündete mit lauter Stimme: »Ich befehle euch im Namen des Volkes von Illinois, sofort friedlich auseinanderzugehen.«

Friedlich, dachte Andreas zornig. Die Polizisten standen mit Waffen in der Hand da! Dass Bonfield das Kommando führte, ließ ihn Böses ahnen. Andreas hatte letzten Sommer beim Streik der Straßenbahner mit eigenen Augen gesehen, wie Bonfield einen unbeteiligten alten Mann bewusstlos geknüppelt hatte.


August Spies kletterte zurück auf den Wagen und flüsterte Fielden ein paar Worte ins Ohr. Dieser rief daraufhin in Richtung Polizei: »Wir sind friedlich!«


Auf dem Platz herrschte absolute Stille. Der Hauptmann wiederholte seinen Befehl Wort für Wort.

»Schon gut, wir gehen ja«, sagte Fielden nach kurzem Zögern und Spies und er machten sich daran, vom Wagen zu steigen. In diesem Augenblick nahm Andreas ein zischendes Geräusch wahr. Er folgte Fieldens Blick und sah einen kleinen Gegenstand, der an einem Ende glühte, von der Seite her in die Reihen der Polizisten fliegen. Er wunderte sich, dass jemand seine Zigarre in so hohem Bogen wegwarf, und wurde im nächsten Moment von einer gewaltigen Detonation gegen den Wagen geworfen. Danach war es stockdunkel, die Flamme der einzigen Gaslaterne in der Straße war von der Druckwelle gelöscht worden. Andreas klangen die Ohren. Nach zwei oder drei Sekunden unheilvoller Stille begannen Schüsse zu fallen. Erst vereinzelt, dann beinahe ununterbrochen.


Es herrschte Chaos. Schreie, Schüsse, Hunderte Menschen, die fortzulaufen versuchten. Andreas wurde von der Menge gegen eines der großen Wagenräder gedrückt. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, sich frei zu machen und unter das Fuhrwerk zu kriechen. Seine Gedanken rasten. War das Dynamit gewesen? Andreas musste an Adolph Fischer und seine Schwärmerei für den Sprengstoff denken.


Zwei Männer krochen unter den Wagen, ohne Andreas in der Dunkelheit zu bemerken. »Diese Idioten feuern auf alles, was sich bewegt!«, fluchte einer von ihnen auf Englisch und mit irischem Dialekt. Der andere schrie: »Nicht schießen, Kollegen!« Das waren Polizisten! Andreas rutschte auf allen vieren rückwärts. Die Polizisten waren sicher nur eine Armlänge von ihm entfernt. Er zögerte, unter dem Wagen hervorzukommen und wegzulaufen, denn noch immer fielen Schüsse. Als er sich endlich einen Ruck geben wollte, zündete einer der Polizisten ein Streichholz an. Er musste irgendetwas gehört haben. Er sah Andreas, fasste ihn sofort am Arm, wartete einen Augenblick und zerrte ihn schließlich ins Freie. Andreas, der eher schmächtig gebaut war, wagte es nicht, sich zu wehren. Der zweite Polizist tastete ihn nach Waffen ab und legte ihm eine Handschelle an. Die zweite Handschelle machte er an einem Wagenrad fest. »Lass uns hier warten, bis jemand mit einer Laterne kommt«, sagte er dabei zu seinem Kollegen.

Überall lagen stöhnende Menschen in der Dunkelheit. Von der Wache her kamen schon bald Uniformierte mit Laternen angelaufen und begannen hastig, nach verletzten Kollegen zu suchen und sie wegzutragen. Andreas sah Bonfield mit einer Pistole in der Hand mitten auf der Straße stehen und Befehle geben. Arbeiter, die von Kugeln getroffen waren, wurden ignoriert, solange sie es nicht wagten, aufzustehen. Taten sie das, bekamen sie den Schlagstock zu spüren oder wurden von Polizisten fortgezerrt. Auch der kräftige Polizist, der Andreas vom Wagen losmachte und mit eisernem Griff am Oberarm in Richtung Wache führte, teilte auf dem Weg dorthin Schläge aus, als ihm ein verletzter und anscheinend verwirrter Arbeiter zu nahe kam. Andreas hatte Angst und dachte an Sophie und an Ella, ihre kleine Tochter, die gerade erst ein halbes Jahr alt geworden war. Sophie würde sich Sorgen machen, wenn er nicht nach Hause käme. Zum Glück war er unverletzt geblieben und er hielt es für ratsam, nicht den Zorn der ohnehin schon wütenden Polizisten auf sich zu ziehen. Er war unbewaffnet und hatte nichts Gesetzwidriges getan, da würde man ihn sicher spätestens am Morgen wieder laufen lassen.

Der Polizist stieß Andreas die Treppe zum Eingang der Wache hinauf. Im Inneren kümmerten sich unverletzte Polizisten um ihre auf Tischen, Bänken und dem Boden liegenden Kollegen, die zumeist Verletzungen an den Beinen hatten und deren Uniformhosen zerfetzt und blutig waren. Andreas hatte noch nie in seinem Leben so viel Blut gesehen. Einige der Verletzten stöhnten oder wimmerten vor Schmerzen. Auf einem Tisch lag ein Mann, dessen Uniform auch am Bauch blutdurchtränkt war. Sein Gesicht war mit einer Jacke bedeckt. Ein Polizist trat wortlos an Andreas heran und schlug ihm die Faust so hart ins Gesicht, dass er in die Knie ging. Der Mann, der ihn abgeführt hatte, zerrte ihn wieder auf die Beine und die Treppe zum Keller hinunter, in einen langen Gang mit zahlreichen eisernen Türen auf beiden Seiten. Andreas war benommen. Der Polizist öffnete eine der Türen und stieß ihn, ohne noch etwas zu sagen, hinein. Die Tür fiel ins Schloss und Andreas war allein in einer dunklen Zelle.


* * *


Wie es unmittelbar nach der Haymarket Riot weiter geht, könnt ihr in meinem Auswanderer-Krimi "Mit Müh und Not" erfahren.


"Wie auch mit den ersten beiden Bänden schaffte Kai Blum es erneut, mich zu begeistern. Authentisch schildert er die historischen Ereignisse und hat die fiktiven Charaktere mit ihren Erlebnissen gekonnt eingebaut." (Die-Rezensentin.de)


"Man spürt regelrecht die gespannte Atmosphäre in der Stadt." (Histo-Couch.de)


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Die meisten der Personen, die in diesem Buch vorkommen, haben tatsächlich gelebt und die Handlung wurde eng an den historischen Hintergrund angelehnt.


Warum ist die Haymarket Riot für die Geschichte der Arbeiterklasse und des 1. Mai von Bedeutung?


August Spies, Albert Parsons, der sich auf Anraten der Verteidigung zu Prozessbeginn gestellt hatte, Samuel Fielden, Michael Schwab, George Engel, Adolph Fischer und Louis Lingg wurden am 20. August 1886 nach einem haarsträubenden Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt. Oscar Neebe, ein ebenfalls angeklagter Anarchist, erhielt eine Gefängnisstrafe von fünfzehn Jahren. Keinem der Verurteilten konnte eine Beteiligung an der Ausführung des Bombenwurfes nachgewiesen werden. Es war vielmehr offensichtlich, dass es darum ging, eine bedrohlich werdende Gefahr für die Herrschaft des Kapitals ein für alle Male aus dem Weg zu schaffen. Dies wurde auch im Plädoyer von Staatsanwalt Julius Grinnell deutlich: »Die Anarchie steht vor Gericht. Diese Männer wurden ausgewählt und angeklagt, weil sie Führer waren. Sie sind nicht mehr schuldig als die Tausenden, die ihnen folgen. Meine Herren Geschworenen, verurteilen Sie diese Männer, statuieren Sie ein Exempel an ihnen, hängen Sie sie und retten Sie unsere Einrichtungen, unsere Gesellschaft.«


Die Verurteilten waren tatsächlich das Rückgrat der Arbeiterbewegung in Chicago: die fähigsten Organisatoren, die besten Redner, die Herausgeber der radikalsten Publikationen – ihre Gegner hatten lange auf die Gelegenheit gewartet, sie auszuschalten. Im Nachhinein wurde bekannt, dass genau diese Gegner schon bei der Formulierung der ersten Anklageschrift vom 5. Mai ihre Finger im Spiel hatten und dort eine angebliche Verschwörung ins Spiel brachten. Und sie stellten 100.000 Dollar zur Bekämpfung von Anarchie und Aufruhr zur Verfügung, die zum Teil für die Bezahlung von Detektiven der Agentur Pinkerton und anderen Informanten sowie zur Bestechung von Zeugen verwendet wurden. Zum Beispiel wurde dem Ehepaar Seliger aus diesen Mitteln eine Heimkehr nach Deutschland ermöglicht.


Alle Bemühungen, das Urteil in höheren Instanzen oder durch eine Bestimmung des Gouverneurs in Haftstrafen umzuwandeln, schlugen fehl. August Spies, Albert Parsons, George Engel und Adolph Fischer starben am 11. November 1887 am Galgen. Die Hinrichtung war stümperhaft, den Gehängten brach nach dem Öffnen der Fallklappen nicht wie üblich das Genick, sondern sie erstickten qualvoll im Laufe mehrerer Minuten. Louis Lingg bestimmte seinen Todeszeitpunkt selbst und ließ am Tag zuvor eine eingeschmuggelte Dynamitkapsel in seinem Mund explodieren. Es dauerte Stunden, bis er seinen Verletzungen erlag. Samuel Fielden und Michael Schwab stellten Gnadengesuche und ihre Todesstrafen wurden in lebenslange Gefängnisstrafen umgewandelt. Die anderen Verurteilten hatten sich geweigert, Gnadengesuche an den Gouverneur zu richten. Mehr als 200.000 Menschen säumten zwei Tage nach der Hinrichtung die Straßen Chicagos, um den Trauerzug mit den Särgen der Hingerichteten zu sehen.


Dieses Denkmal für die zu Unrecht verurteilten Arbeiterführer befindet sich in unmittelbarer Nähe ihrer Gräber auf dem Forrest Home Cemetery bei Chicago.


Rudolph Schnaubelt war nach Kanada geflüchtet und lebte eine Weile bei Indianern. Anschließend arbeitete er auf einer Farm in Quebec und verdiente sich das nötige Geld für die Überfahrt nach England. Von dort ging er schließlich nach Argentinien und wurde ein erfolgreicher Hersteller von landwirtschaftlichem Gerät. Seine Flucht galt vielen als Eingeständnis seiner Schuld. Zumindest einige der Verurteilten erfuhren in den Monaten vor ihrer Hinrichtung den Namen des eigentlichen Täters, gaben ihn aber nicht preis.


Die Inhaftierten Fielden, Schwab und Neebe wurden 1893 durch den neu gewählten Gouverneur von Illinois, John Peter Altgeld, begnadigt. Nach eingehender Prüfung bezeichnete der in Deutschland geborene Jurist Altgeld den Prozess gegen die acht Anarchisten als unrechtmäßig. Altgeld war sich sehr wohl bewusst, dass er mit dieser Entscheidung politischen Selbstmord beging. Wie von ihm selbst erwartet, wurde er tatsächlich nicht im Amt bestätigt.


Lucy Parsons überlebte ihren 1887 hingerichteten Mann Albert um 53 Jahre und setzte den Kampf gegen die Ausbeutung der Arbeiter bis zu ihrem Tode fort. Unzählige Male wurde sie verhaftet oder beim Halten von Reden in der Öffentlichkeit behindert. Als sie 1941 starb, beschlagnahmte die Polizei in Chicago alle ihre Bücher und Papiere und ließ diese verschwinden. Polizei und Kapital hatten nicht vergessen, dass es Albert und Lucy Parsons waren, die am 1. Mai 1886, drei Tage vor der Haymarket Riot, an der Spitze der ersten Maidemonstration marschierten, an der 80.000 Menschen auf der Michigan Avenue in Chicago teilnahmen und für die Einführung des Achtstundentages demonstrierten. Damit war der internationale Kampftag der Arbeiterklasse geboren, den es in den USA allerdings schon im Jahr nach Lucy Parsons’ Tod nicht mehr gab. Die Kommunistische Partei der USA verzichtete während des Zweiten Weltkrieges auf alle Proteste und Streiks. Eine Wiederbelebung nach dem Krieg wurde durch Verbote unterbunden.


Wo genau fand die Haymarket Riot statt?


Die Haymarket Riot fand nicht auf dem Haymarket in Chicago, der praktisch eine Verbreiterung der Randolph Street war, sondern in dessen unmittelbarer Nähe statt. Die Kundgebung sollte ursprünglich, wie auf den Flugblättern angekündigt, auf dem Haymarket stattfinden, jedoch wurde sie kurzerhand in die Desplaines Street am südlichen Ende des Haymarket verlegt, da dort ein Lastenwagen stand, den die Redner als Tribüne nutzen konnten. Heute ist die Stelle aufgrund dieses Denkmals leicht zu finden:


Das Haymarket-Riot-Denkmal in Chicago befindet sich genau an der Stelle, wo während der Kundgebung am Haymarket Square der Wagen mit den Rednern Albert Parsons, August Spies und Samuel Fielden gestanden hatte.


FAQ


Wo befindet sich das Haymarket-Riot-Denkmal in Chicago?

Die Adresse ist 151-169 N Desplaines St, Chicago, IL 60661. Man kann in wenigen Minuten vom Stadtzentrum aus sowohl mit der Red Line als auch mit der Green Line der Hochbahn dorthin gelangen. Die Station an der man aussteigen muss, heißt Clinton. Von dort sind es rund 300 Meter Fußweg.


Warum wird die Haymarket Riot mitunter auch als Haymarket Affair bezeichnet?

Die beiden Begriffe sind unmittelbar miteinander verbunden: Die Haymarket Riot sind genau genommen die Ereignisse am Abend des 4. Mai 1886, und die Haymarket Affair sind die darauf folgenden einseitig geführten polizeiliche Ermittlungen, das politisch motivierte Gerichtsverfahren und der anschließende Justizmord.


Gibt es deutsche Sachbücher zur Haymarket Riot?


Wurde der Haymarket-Bombenwerfer je gefunden?

Nein. Einige der Angeklagten kannten wohl seine Identität, gaben sie aber nicht preis. Manche Historiker glauben, dass der geflüchtete Rudolph Schnaubelt der Täter war. Jedoch hat der Historiker Paul Avrich, dessen englischsprachiges Sachbuch "The Haymarket Tragedy" ganz hervorragend ist, in einem Zeitungsartikel davon berichtet, einen Brief von der Tochter des wahren Bombenwerfers erhalten zu haben. Dieser Version bediene ich mich auch in meinem Krimi "Mit Müh und Not".




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